Juni 2021

Thomas Platt / Sir Christopher Wren (Architekt), Ostfassade der Londoner St Paul’s Cathedral, ca. 1703-1720,

Kupferstich und Radierung,

65 cm x 47 cm

TIB, Slg. A. Haupt, gr. E. A. 1:1

Dieses Objekt des Monats widmen wir unserem englischen Kollegen Graham Triggs, Software-Entwickler im GESAH-Projekt, der am 25. Mai 2021 plötzlich verstorben ist.
Das GESAH-Team

Das großformatige Blatt zeigt die Ostseite der St Paul’s Cathedral  in London im Aufriss. Von einem bewegten Himmel überfangen und einer dekorativen Bildunterschrift begleitet, wird das Bauwerk monumental präsentiert. Eine undefinierbare Lichtquelle beleuchtet die Chorapsis in der Mittelachse und lässt durch harte Schlagschatten die Fassade vor- und zurücktreten.  Die Kuppel aber bleibt im Schatten und hebt sich umso deutlicher vom hellen Hintergrund ab: sie ist das zentrale Motiv der Darstellung. Um diesen Effekt nicht zu schmälern, wurde auf die Abbildung der beiden Uhrtürmchen der Westfassade, die links und rechts der Kuppel in der Projektion eigentlich zu sehen sein müssten, verzichtet.

Die Baugeschichte des wohl bekanntesten Werks des britischen Architekten Sir Christopher Wren (1632-1723) gestaltete sich langwierig und war von zahlreichen Planänderungen geprägt. Nachdem der gotische Vorgängerbau beim Großen Feuer von London 1666 zerstört worden war, erhielt Wren 1669 den Auftrag für einen Neubau (Bauzeit 1675-1711).

Noch bevor der Bau vollendet und insbesondere die Kuppel nicht ausgeführt war, erschienen eine Reihe von Druckgraphiken, die eine Vorstellung der fertigen Kathedrale vermitteln sollten, denn der aus Steuern finanzierte Bau war für die Londoner Bevölkerung über fast drei Jahrzehnte nur als Groß-Baustelle wahrzunehmen. Die meisten Drucke, darunter auch jene, die von offizieller Seite in Auftrag gegeben und vom Architekten autorisiert wurden, zeigen nicht die endgültig ausgeführte Kathedrale. Sie beruhen auf Entwürfen, die bereits verworfen worden waren oder noch überarbeitet werden sollten – und dies ganz besonders im Bereich der Kuppel. Das trifft auch auf die kleine Anzahl von Aufrissen der Ostseite der Kathedrale zu. Der hier vorliegende Stich entspricht allerdings nicht nur in Form und Aufbau der Kuppel, sondern auch in den Details – etwa die radialen Bögen im Peristyl des unteren Tambours - der letztlich gebauten Architektur. Ob Thomas Platt, der Kupferstecher, auf ein Zeichnung Wrens zurückgreifen konnte oder ab ca. 1710 das vollendete Werk des Architekten zum Vorbild nahm, ist nicht geklärt. Anzunehmen ist, dass ein reger Austausch zwischen den Beteiligten bestanden haben muss, denn der Platz rund um die Kirche bzw. um die Baustelle war jenes  Viertel in London, in dem Buchhändler und Drucker ihre Läden und Werkstätten eingerichtet hatten, so auch Thomas Bowles (aktiv 1691-1721), der den hier vorliegenden Abdruck verkaufte.

Ein Abzug des heute raren Stichs befand sich auch im Besitz der Familie Wren. Offenbar um die Entwürfe seines Vaters zu dokumentieren, schnitt Christopher Wren jr. (1675–1747), die Kuppel und den Tambour aus und klebte sie auf den Stich des Kupferstechers Simon Gribelin (1661 –1733), welcher einen Aufriss der Nordseite der Kathedrale mit der Kuppel in einem früheren Entwurfsstadium nach einer Zeichnung seines Vaters angefertigt hatte.

Birte Rubach